Die Haftung für Compliance-Verstöße ist ein komplexes und sich ständig weiterentwickelndes Rechtsgebiet, das sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext von großer Bedeutung ist. In den letzten Jahren hat die Rechtsprechung in Deutschland und der EU die Haftungsrisiken für Unternehmen und deren Organe (z.B. Geschäftsführer, Vorstände) im Zusammenhang mit Compliance-Verstößen deutlich verschärft. Hier ist eine umfassende Erläuterung der aktuellen Entwicklungen und Grundsätze:
1. Haftung von Unternehmen
Unternehmen können für Compliance-Verstöße sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich haften. Die Rechtsprechung hat in den letzten Jahren die Verantwortung von Unternehmen gestärkt, insbesondere durch folgende Entwicklungen:
a) Unternehmensstrafrecht (Verbandsstrafrecht)
- § 30 OWiG (Ordnungswidrigkeitengesetz): Unternehmen können für Compliance-Verstöße ihrer Mitarbeiter oder Organe mit Geldbußen bis zu 10 Millionen Euro oder höher (je nach wirtschaftlichem Vorteil) belangt werden. Die Rechtsprechung hat klargestellt, dass Unternehmen auch für Verstöße im Ausland haften, wenn sie von deutschen Mitarbeitern begangen wurden.
- § 130 OWiG: Unternehmen haften für die Verletzung von Aufsichtspflichten, wenn sie keine angemessenen Compliance-Maßnahmen ergreifen, um Verstöße zu verhindern. Die Rechtsprechung betont, dass Unternehmen ein effektives Compliance-Management-System (CMS) implementieren müssen.
b) EU-Recht und internationale Entwicklungen
- EU-Whistleblower-Richtlinie: Seit Dezember 2021 müssen Unternehmen in der EU interne Meldekanäle für Whistleblower einrichten. Die Rechtsprechung hat die Pflichten von Unternehmen zur Einrichtung solcher Systeme gestärkt.
- Geldwäsche-Richtlinie (AMLD): Unternehmen in der Finanzbranche müssen strenge Compliance-Pflichten einhalten, um Geldwäsche zu verhindern. Verstöße können zu hohen Geldbußen führen.
c) Zivilrechtliche Haftung
- Unternehmen können für Compliance-Verstöße auch zivilrechtlich haften, z.B. gegenüber Geschäftspartnern, Kunden oder Aktionären. Die Rechtsprechung hat in einigen Fällen Schadensersatzansprüche wegen Verletzung von Sorgfaltspflichten anerkannt.
2. Haftung von Geschäftsführern und Vorständen
Geschäftsführer und Vorstände können persönlich für Compliance-Verstöße haften, insbesondere wenn sie ihre Pflichten verletzen. Die Rechtsprechung hat hier folgende Grundsätze entwickelt:
a) Organhaftung nach § 43 GmbHG bzw. § 93 AktG
- Geschäftsführer und Vorstände müssen sicherstellen, dass das Unternehmen alle gesetzlichen Vorschriften einhält. Verstöße gegen Compliance-Pflichten können zu Schadensersatzansprüchen führen.
- Die Rechtsprechung betont, dass Organe ein funktionierendes Compliance-System implementieren und überwachen müssen. Ein Verstoß gegen diese Pflicht kann als Pflichtverletzung gewertet werden.
b) Strafrechtliche Haftung
- Geschäftsführer und Vorstände können strafrechtlich haften, z.B. für Korruption, Betrug oder Geldwäsche. Die Rechtsprechung hat klargestellt, dass Organe auch für Verstöße von Mitarbeitern haften können, wenn sie ihre Aufsichtspflichten verletzt haben.
- Beispiel: Im Fall „Siemens“ wurden Vorstandsmitglieder persönlich für Korruptionsverstöße zur Verantwortung gezogen.
c) Aufsichtspflichten
- Die Rechtsprechung hat die Aufsichtspflichten von Geschäftsführern und Vorständen verschärft. Sie müssen sicherstellen, dass das Unternehmen über ein effektives Compliance-Management-System verfügt und regelmäßig überwacht wird.
- Beispiel: Im Fall „VW-Dieselskandal“ wurde diskutiert, inwieweit Vorstandsmitglieder für die mangelnde Überwachung von Compliance-Risiken haften.
3. Compliance-Management-System (CMS) als Haftungsvermeidung
Die Rechtsprechung betont, dass ein effektives Compliance-Management-System (CMS) entscheidend ist, um Haftungsrisiken zu minimieren. Ein CMS muss folgende Elemente umfassen:
- Risikoanalyse: Identifikation von Compliance-Risiken.
- Richtlinien und Verfahren: Klare Regeln zur Einhaltung von Gesetzen und internen Vorschriften.
- Schulungen: Regelmäßige Schulungen der Mitarbeiter.
- Meldesysteme: Einrichtung von Whistleblower-Systemen.
- Überwachung und Kontrolle: Regelmäßige Überprüfung der Compliance-Maßnahmen.
Die Rechtsprechung hat klargestellt, dass ein fehlendes oder unzureichendes CMS als Pflichtverletzung gewertet werden kann.
4. Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung
- Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG): Seit 2023 müssen Unternehmen in Deutschland sicherstellen, dass ihre Lieferketten frei von Menschenrechtsverletzungen sind. Die Rechtsprechung wird voraussichtlich die Haftung für Verstöße gegen das LkSG verschärfen.
- Klimaschutz und ESG-Compliance: Unternehmen müssen zunehmend auch Umwelt-, Sozial- und Governance-Risiken (ESG) berücksichtigen. Die Rechtsprechung entwickelt hier neue Haftungsgrundsätze.
- Digitalisierung und Datenschutz: Verstöße gegen die DSGVO können zu hohen Bußgeldern führen. Die Rechtsprechung hat die Haftung von Unternehmen und Organen für Datenschutzverstöße gestärkt.
5. Internationale Entwicklungen
- US-amerikanischer Foreign Corrupt Practices Act (FCPA): Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen in den USA müssen strenge Anti-Korruptions-Regeln einhalten. Die Rechtsprechung hat die internationale Reichweite des FCPA bestätigt.
- UK Bribery Act: Auch britische Gesetze haben eine globale Reichweite und können zu Haftungsrisiken für deutsche Unternehmen führen.